Rezension aus der NZZ (Neue Zürcher Zeitung), 27. Juli 2002, Nr.146, S.60Nahe sein und fern seinFranz Rosenzweigs "Gritli" - BriefeWer nachvollziehen will, was es mit der auratischen Erfahrung auf sich hat, dem können in mehr als tausend Liebesbriefen alle möglichen Modalitäten dieses "sonderbaren Gespinstes aus Raum und Zeit" anschaulich werden. Mitten im Ersten Weltkrieg, dem Ereignis, das nach Walter Benjamins Diagnose die Verarmung solcher Erfahrung rasant beschleunigte, nimmt ein reger Briefwechsel zwischen der mazedonischen Front und Säckingen seinen Lauf. Dort tut Franz Rosenzweig, der deutsche Jude, der 1913 seinen Entschluss zur Taufe rückgängig gemacht hat und sich seither mit Intensität die Quellen seiner Religion erschliesst, als deutscher Soldat seinen Dienst. Hier ist Margrit Rosenstock-Huessy, die Frau des Freundes Eugen Rosenstock, zu Hause. Vom März 1918 an bis zum Januar 1922 schreibt Rosenzweig beinahe täglich: aus Wartesälen der Bahn, im Lazarett, aus der Untermiete in Freiburg, in Berliner und Leipziger Hotels oder gar am Schreibtisch der Freundin Gritli, deren Familie er sich vorstellt. Hier bringt er die Worte zu Papier, die am Ende seines Hauptwerkes "Der Stern der Erlösung" hinausführen sollen "ins Leben". Der Produktionsprozess dieses Buches von August 1918 bis Februar 1919 findet in den Briefen seine lückenlose Chronologie, ebenso wie die mühsame Suche des Autors nach einem Betätigungsfeld in der Nachkriegszeit. Sein Beruf sei "Briefschreiber", hatte die Mutter ihm ironisch vorgehalten, an die er ambivalent gebunden ist. Mit der Gründung des "Freien Jüdischen Lehrhauses" in Frankfurt 1920 kommt die Suche an ihr Ziel. Als Rosenzweig wenig später an einer fortschreitenden Lähmung des gesamten Körpers (amyotrophische Lateralsklerose) erkrankt, stockt auch der Briefwechsel; er endet 1925/26. Es gehört zur Aura dieser intimen Briefe, dass nur die aus Rosenzweigs Feder erhalten sind. Sein Sohn Rafael hat sie wenige Jahre vor seinem eigenen Tod (2001) zur Veröffentlichung freigegeben. So nah Franz Rosenzweig auch dem Leser zu treten vermag, so fern muss ihm die Adressatin bleiben; ihre Mitteilungen sind von Rosenzweigs Frau Edith nach dem Tod ihres Mannes (1929) verbrannt worden. Erhalten sind somit nur Fragmente einer Sprache der Liebe, von grosser Zärtlichkeit und einem unstillbaren Sehnen. Voller "Ferngefühle" ist das Verhältnis zu dieser Geliebten, die ihm nicht Braut, aber Schwester werden kann, wie Rosenzweig im Anklang an das Hohelied schreibt. "Das Schreiben schafft ja eine eigene Welt mit eigenen Grenzen, eigener Bescheidung. Im wirklichen Beieinander sinken die Grenzen, und unbescheiden steigt die Flut des Glücklich- und Unglücklichseins und überflutet das Festland des Herzens." Doch die Entfernung ist immer wieder auch ein Leiden. "Ich spürte die Entfernung so", heisst es im September 1918, "weiss man oder darf's glauben, dass der andre auch schreibt, so ist gleich die Gleichzeitigkeit da und Zeit und Raum vergessen". Oder im Februar 1919: "Ist es mir denn nur so, als ob noch nie das Fernsein so unerträglich ... gewesen wäre. Wenn ich Dich jetzt herbeschwören könnte - o Gritli." Und im April: "Briefe sind ja doch nichts - lass mich deine Fingerspitzen küssen." Einmalig ist ihm die Begegnung mit dieser Frau, so fern und nah sie sein mag, auch noch um den Jahreswechsel 1919/20, als er Edith Hahn kennen lernt, heiratet und mit ihr ein jüdisches Haus gründet. Er reflektiert seine Zweifel über die Heirat in der Aura der fernen anderen. Immer wieder findet der Satz Max Frischs Bestätigung, schreiben heisse "sich selber lesen". Doch diese Reflexion des Selbst bedarf des Gegenübers, des Du, in dessen gegenwärtigem oder imaginiertem Angesicht es sich gewinnt, zu verlieren droht und neu gewinnt. In all den Sprachformen der "Schöpfung", die der "Stern" unterscheidet, geben diese Briefe Zeugnis von reflexiver Dialogizität. Auratisch ist aber auch das Verhältnis des Judentums zum Christentum, wie es in dem berühmten - ebenfalls vor allem brieflich geführten - Religionsgespräch mit Rosenstock (1916) thematisch wird. Dass "nur aus dem Fernsten ... die Erneuerung" komme, wendet Rosenzweig auf seine eigene Rückkehr zum Judentum an: "Ich habe ja auch ursprünglich am Christentum das Judentum begriffen". Im "Herzbuch" des "Sterns" (Teil 2, 2), in diesem "eigentlich indiskreten Kapitel", "wo alles Schreiben daran Schreiben an Dich ist", setzt Franz Gritli ein Denkmal. Der ganze zweite Teil des Werkes ist ihm "so etwas wie das Siegel" dieser Liebe: "ein fühlbares, greifbares Band von mir zu Dir, ... das Symbol, das uns versagt bleiben muss, es gibt doch keinen Ring, den wir tragen dürften". Gritli, die "geliebte Seele", tritt in das Religionsgespräch ein, um die Differenz des Glaubens, die zwischen Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig immer wieder neu aufbricht, auf eine Liebe zu beziehen, die nicht mehr (und sei es auf dem Wege von Bekehrungsversuchen) das Eigene sucht und so den anderen als anderen anzuerkennen vermag. Nie überschreitet Rosenzweigs Offenheit die Grenze zur Blossstellung, wohl aber mutet sie sich selbst und den anderen Beteiligten den Schmerz der eigenen Wahrhaftigkeit zu. Die Seelenlagen sind unauflösbar in dieses Religionsgespräch verflochten, und das in dem historischen Augenblick eines erneuten Aufkeimens des Antisemitismus, der in die Katastrophe des europäischen Judentums führte. Viel zeitgeschichtlich und alltagsweltlich Interessantes in diesen Briefen lässt sich den Tagebüchern Victor Klemperers oder dem Rückblick Sebastian Haffners auf die Nachkriegsjahre an die Seite stellen: die Kriegserfahrung, das von den Expressionisten breitenwirksam zum Ausdruck gebrachte Gefühl einer alt gewordenen Welt, die Nutzung der durch die Eisenbahn ermöglichten Mobilität und die Bedeutung warmer Stuben unter Bedingungen kalter Winter und schwacher Heizung (Rosenzweig schrieb einige Teile seines Hauptwerkes in Freiburger Wirtshäusern nieder, so dass andere Stammgäste meinten, hier entstünde eines der vielen Kriegsbücher), die alles überragende Bedeutung des späten Hermann Cohen für den Verfasser des "Sterns", aber auch die Wahrnehmung insbesondere der Heidelberger Universitätslandschaft, des Kinos und Theaters in Berlin. All dies (die Reihe liesse sich gut verlängern) erscheint aber nur als Begleitmusik neben den zwei grossen Themen Rosenzweigs: dem "†bergang von der idealistischen Philosophie ... zum Leben, das Religion ist", und der "†bergänge der Religion zum Judentum" (E. Levinas). Möglich wurden diese †bergänge auf dem Boden der zwischenmenschlichen Beziehungen, von denen diese Briefe Tag für Tag handeln. Grosser Dank gebührt den Herausgebern, die in mühevoller Arbeit die von Ulrike von Moltke erstellte Abschrift der handschriftlichen Originale geprüft und zum Zweck der Verständlichkeit auch für Nichtspezialisten mit Anmerkungen versehen haben. Manch biographisches Detail bleibt aber dennoch verborgen. Hans Martin Dober |